Ausstellungsansicht mit Threads Von Kate Evans © Oliver Ottenschlaeger
Ausstellungsansicht mit "Threads" Von Kate Evans

Das Sigmund Freud Museum in der Wiener Berggasse widmet sich seit dem 20. Oktober den vielfältigen Möglichkeiten zur kritischen Gewaltdarstellung in Comics. Ausgewählte Arbeiten von über 30 internationalen Künstler:innen spannen in „Gewalt erzählen. Eine ComicAusstellung“ einen Bogen von der Shoah über individuelle Gewalterfahrungen bis hin zu aktuellen Konflikten und dem Umgang mit Schutzsuchenden bzw. Unterdrückten.

In den vier Ausstellungssektionen „Sexualisierte und geschlechtsbezogene Gewalt“, „Coming-of-Age“, „Shoah“ sowie „Krieg, Flucht und Migration“ eröffnet die neue Sonderausstellung Einblicke in die Erzählstrategien des Mediums und deren Produktivität für die Psychoanalyse. Gezeigt werden u.a. Arbeiten von Alison Bechdel, Anke Feuchtenberger, Regina Hofer/Leopold Maurer, Aline Kominsky-Crumb, Ulli Lust, Rutu Modan, Joe Sacco, Marjane Satrapi, Art Spiegelman, Gene Luen Yang und Barbara Yelin.
Vergleichbar mit den von Freud beschriebenen Funktionen der Traumarbeit, nämlich der Verschiebung und Verdichtung, bringen Comics an den dargestellten Körpern Emotionen verfremdet und überzeichnet zum Ausdruck. Körper werden in Comics grundsätzlich in ihrer Verletzbarkeit vorgeführt – an ihnen werden Empfindungen, Schmerz und Aggression verkörpert.
Mit ihren vielfältigen Verfahren und ästhetischen Möglichkeiten, Erleben von Gewalterfahrungen darzustellen, eignen sich Comics auch dazu, Verdrängtes, Unaussprechliches und Tabuisiertes aufzuzeigen – sie können dazu dienen, Traumata zu adressieren und neue Perspektiven darauf zu eröffnen. Dabei bieten sie auch für die Psychoanalyse interessante Anknüpfungspunkte, vor allem in Hinblick auf das Thema Gewalt.
Die Ausstellung, die bis 8. April 2024 in Freuds früheren Wohnräumen zu besichtigen ist, legt den Schwerpunkt auf Underground Comics und alternative Comics. Sie umfasst (auto)biografische, journalistische und fiktive Arbeiten, die als eigenständige Bücher, in Anthologien, in Comic-Magazinen oder als Webcomics publiziert wurden.

Gewalt in Comics und Psychoanalyse

Comics – historische Schlaglichter

Gewalt spielt in Comics von Beginn an eine zentrale Rolle. So prägte sie etwa die Ästhetik des Slapsticks in den frühen Daily Strips US-amerikanischer Tageszeitungen. In den ab den 1930erJahren entstandenen Superheld:innen-Comics ist Gewalt bestimmend für Handlung und Dynamik.
Comics seien gewaltverherrlichend und jugendgefährdend, erklärte der deutsch-amerikanische Psychiater Fredric Wertham 1954, was schließlich unter dem Begriff des „Comics Code“ zu einer Selbstzensur US-amerikanischer Verlage führte. Auch als Reaktion darauf entstanden die Underground Comics/Comix, wobei das „X“ für „X-rated“ steht (für Jugendliche nicht geeignet). Zu den wichtigsten Underground-Künstler:innen zählen unter anderen die in der Ausstellung vertretenen Justin Green, Aline Kominsky-Crumb und Art Spiegelman. Underground Comics widmen sich gesellschaftspolitischen Themen wie Drogenkonsum, Gewalt und Sexualität; von großen Verlagshäusern unabhängig, stehen hier die jeweiligen Autor:innen im Zentrum.

Psychoanalyse und Comics

Wie die Psychoanalyse entstand auch das Medium Comics um 1900. Obwohl ihre Anfänge in keinem Zusammenhang stehen, finden sich psychoanalytische Einsichten bereits in frühen Comics: In ihnen gelangt die Überführung eines psychischen Konflikts in körperlichen Ausdruck oft meisterhaft zur Darstellung. Diesen Wandel seelischer in körperliche Erregungszustände bzw. Symptome beschrieb auch Freud, zeitgleich mit dem Erscheinen erster Comics, in seinen Schriften über Hysterie – er bezeichnete diesen als „Konversion“.
Little Nemo in Slumberland, von 1905 bis 1911 in New York erschienen, zeigt die Durchlässigkeit von Traum und Realität, ohne dass der Autor Winsor McCay Freuds Traumdeutung gelesen hätte.In eben jene Traumdeutung fügte Freud in späterer Auflage einen Cartoon ein, den „Traum der französischen Bonne“, die ursprünglich einem satirischen Magazin aus Budapest entstammt und von Sándor Ferenczi als ideale Illustration entdeckt wurde (zu sehen in der Dauerausstellung des Sigmund Freud Museums).
Trotz des gemeinsamen Interesses für die Vergegenwärtigung und Vermessung psychischer Realitäten wurde Comics von Seiten der Psychoanalyse lange Zeit keine Beachtung geschenkt oder sie wurden pauschal abgelehnt. Erst in den letzten Jahrzehnten setzt auch die psychoanalytische Theoriebildung verstärkt auf die unmittelbare Ausdruckskraft des Bild-TextMediums. Die Psychoanalytikerin Ann-Louise Silver fügte 1986 in ihrer enthusiastischen Rezension von Art Spiegelmans MAUS für ein amerikanisches Fachjournal an: „Für jede:n, die/der ein Kind eines Shoah-Überlebenden behandelt, könnte dieses kleine Buch zur Pflichtlektüre werden.“

Die Ausstellungssektionen

Sexualisierte und geschlechtsbezogene Gewalt

In der umfassendsten Sektion der Ausstellung werden Erfahrungen sexualisierter und geschlechtsbezogener Gewalt von unterschiedlichen Betroffenengruppen zum Thema. In zum Teil sehr expliziten Arbeiten werden so Gewaltakte verschiedener Art vergegenwärtigt. All in a Day’s Work (1972) von Lee Marrs ist ein frühes Beispiel für die Auseinandersetzung mit einem nach wie vor zentralen Thema: sexualisierte und geschlechtsbezogene Gewalt am Arbeitsplatz. Aline Kominsky-Crumbs Love that Bunch (1990) thematisiert, unter anderem autobiografisch, die von Gewalt geprägte Kindheit und Jugend der Autorin. Phoebe Gloeckner erzählt in A Child’s Life and Other Stories (1998) von psychischer, physischer und insbesondere sexualisierter Gewalt an Kindern.
Diane Noomin beschäftigt sich in Grab ‘em by the Pussy (2019) mit jenem Video, in dem Donald Trump mit eben jener Äußerung sein Frauenbild und Machtverständnis offenlegte.
Delusions of Safety (2018) von Ajuan Mance reflektiert aus autobiografischer Perspektive den oftmals enttäuschten Wunsch nach Sicherheit in einem von Diskriminierung geprägten Umfeld. Die deutsche Comic-Zeichnerin Anke Feuchtenberger ist mit mehreren Arbeiten, darunter auch Originalarbeiten, präsent. Sie beschäftigt sich unter anderem im Rückgriff auf andere Künstler:innen sowie auf Werke von Patient:innen psychiatrischer Einrichtungen mit der Selbstermächtigung von Frauen.
Tab Kimptons Webcomic Jamie’s Story (2008) erzählt von den Traumatisierungen und dem Missbrauch der Titelfigur.
Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens (2009) von Ulli Lust, die ebenfalls Originalzeichnungen zur Verfügung stellt, schildert die Erlebnisse der Autorin in der patriarchalen, von struktureller Gewalt gegenüber Frauen geprägten Gesellschaft im Sizilien der 1980er-Jahre.
Unas Becoming Unbecoming (2015) thematisiert behördliches Versagen und die mediale Berichterstattung im Fall des sogenannten Yorkshire Rippers Peter William Sutcliffe in den 1970ern und das individuelle Erleben von sexualisierter Gewalt.
Indigene Queer-Aktivist:innen in Brasilien stehen im Fokus von Taís Koshinos Für das Recht auf Existenz. Indigener LGBTQIA+-Aktivismus in Brasilien (2022).
Persepolis (2000–2003) von Marjane Satrapi wird als Animationsfilm gezeigt. Ihr autobiografischer Comic erzählt vom Aufwachsen im Iran, vom Exil in Wien, der Rückkehr in den Iran und dem Leben in der Pariser Emigration. Insbesondere seit dem Tod Jina Mahsa Aminis nach ihrer Festnahme durch die Sittenpolizei 2022 und den darauffolgenden neuerlichen Protesten gegen staatliche Gewalt an Frauen im Iran zeigt sich die anhaltende Aktualität von Satrapis Arbeit. 2007 wurde Persepolis unter der Regie von Vincent Paronnaud und Marjane Satrapi als Animationsfilm uraufgeführt, die Ausstellung zeigt einen Auszug aus der Episode Téhéran 1992.

Coming-of-Age

Comics, die sich der Zeit des Heranwachsens (Coming-of-Age) widmen, thematisieren oft Prozesse der Identitätssuche und die Verortung des Ich in seiner Umwelt. In der Psychoanalyse wird dieser Lebensabschnitt als Phase von Irritation und Zweifeln aufgefasst. Die in der Ausstellung gezeigten Arbeiten behandeln Mobbing, Hassrede, Suizid, psychische, physische und sexualisierte Gewalt, sowie diskriminierende Strukturen. Die häufig autobiographischen Comics verdeutlichen die vielfältigen ästhetischen Möglichkeiten des Mediums, auf tabuisierte Themen aufmerksam zu machen und von gewaltvollem Erleben zu erzählen.
Mit Justin Greens Binky Brown Meets the Holy Virgin Mary (1972) ist eine der Pionierarbeiten der Underground-Comics in der Ausstellung vertreten, die sich auf ironische Weise mit streng religiöser und gewaltvoller Erziehung sowie mit der Schambehaftung und Tabuisierung von Sexualität auseinandersetzt.
Der 2014 publizierte autobiografische Comic Hexenblut thematisiert strukturelle Gewalt gegenüber LGBTQIA+-Personen anhand der Kastration einer intersexuell geborenen Person und den Auswirkungen dieses gewaltvollen medizinischen Aktes.
Gene Luen Yangs American Born Chinese (2006) handelt von (strukturellem) Rassismus und Identitätsfindung.
Fun Home (2006) von Alison Bechdel, die sich in ihren Arbeiten auch explizit mit der psychoanalytischen Theoriebildung beschäftigt, hat die Herausbildung queerer autobiografischer Comics maßgeblich beeinflusst. Sexualisierte Gewalt, tabuisierte Homosexualität und belastende Familienstrukturen stehen hier im Zentrum.
Lukas Jüligers Vakuum (2013) beleuchtet Themenkomplexe wie Stalking, Suizid, Mobbing, Drogenmissbrauch, Identitätskonflikte und Familienstrukturen.

Regina Hofer & Leopold Maurer: Insekten, © Luftschacht 2019Shoah

Der fundamentalen Frage, wie die Shoah überhaupt erzählt werden kann, widmet sich die Ausstellung anhand (auto-)biografischer Comics, die aus der Perspektive der Opfer und an einer Stelle aus jener eines Täters erzählen. Das Vermögen von Comics, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unmittelbar zusammenführen zu können, ist für die Psychoanalyse – insbesondere für die Auseinandersetzung mit transgenerationalen Traumata – von Bedeutung.
Die Ausstellung zeigt mit Art Spiegelmans MAUS (1986 und 1991) die wohl einflussreichste Arbeit zum Thema – ein auf den Erzählungen von Spiegelmans Vater, einem AuschwitzÜberlebenden, beruhender Comic. Durch Spiegelmans Entscheidung, Menschen mit Tierköpfen zu zeichnen, schuf er einen gänzlich neuen Zugang zum Thema und zur Frage der Darstellbarkeit der Shoah.
Sid Jacobsons und Ernie Colons Das Leben von Anne Frank (2010) greift eine der bekanntesten Lebensgeschichten der Shoah auf.
Die österreichischen Comic-Künstler:innen Regina Hofer und Leopold Maurer erzählen in Insekten (2019) eine Täterbiografie: Maurers Großvater, überzeugtes SS-Mitglied, steht im Zentrum dieser Arbeit, die die Relativierungen und Verklärungen des Täters mit historischen Fakten konterkariert. Ausgewählte Zeichnungen von beiden Künstler:innen werden zudem im Original präsentiert.
Barbara Yelins Aber ich lebe. Nach Erinnerungen von Emmie Arbel (2022) sowie Nino Bullings Tamgout, Buchenwald, Paris (2015) widmen sich Biografien von Shoah-Opfern. Beide Arbeiten sind Teil von interdisziplinären internationalen Projekten, die sich mit der (visuellen) Dokumentation der Geschichten von Shoah-Opfern beschäftigen.

Krieg, Flucht und Migration

Die Sektion „Krieg, Flucht und Migration“ versammelt (auto-)biografische, fiktive und journalistische Auseinandersetzungen. Aus der Vielzahl an – in Comics dargestellten – Themen und Konflikten greift die Ausstellung vier exemplarische Bereiche heraus: den Nahostkonflikt, die Geschichte des Balkans, den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine und die anhaltenden, durch Kriege, Terror, Armut und den Klimawandel bedingten Fluchtbewegungen über das Mittelmeer.
Joe Saccos Palestine (1996) basiert auf Recherchen des Autors in der Westbank und dem Gazastreifen in den 1990er-Jahren und thematisiert u. a. die Gewalt des israelischen Geheimdienstes gegenüber Palästinenser:innen in den besetzten Gebieten. Die vielschichtige Arbeit ist von der anhaltenden Auseinandersetzung mit der eigenen Perspektive des Autors als weißer Mann geprägt.
Rutu Modans Exit Wounds (2007) ist in Tel Aviv angesiedelt und erzählt von der Suche nach dem Vater einer der beiden Hauptfiguren vor dem Hintergrund eines Terror-Attentats. Fatherland. A Family History (2014) von Nina Bunjevac beleuchtet autobiografisch die traumatisierende Kindheit des Vaters auf der Balkanhalbinsel im Zweiten Weltkrieg wie auch seinen Tod bei einer Explosion 1977 als Mitglied einer Terrororganisation.
Danyl Shtangeevs und Borys Filonenkos Spacetime in Rubizhne (2022) erschien in einem Heft des deutschen Comicmagazins Strapazin, das sich dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine widmet. Der Comic zeigt den Verlust von Identität und Erinnerung durch die Zerstörung des öffentlichen und privaten Raumes. Eine Media-Station bietet in der Ausstellung zudem Zugang zu grafischen Arbeiten über den Krieg in der Ukraine, die von der Gruppe Pictoric auf www.supportukraine-pic.com veröffentlicht werden. Auch Igorts Berichte aus der Ukraine. Tagebuch einer Invasion (2022) erzählt episodisch vom Krieg in der Ukraine. Die Webcomic-Serie Alphabet des Ankommens (2017) des Deutschen Comicvereins versammelt zwölf Comicreportagen unterschiedlicher Autor:innen und Zeichner:innen rund um Kriegserleben, Fluchterfahrungen, Traumatisierungen und Diskriminierung. Aktuelles Erleben von und mit Geflüchteten wird in zwei der ausgestellten Arbeiten zum Thema: Olivier Kuglers Escaping Wars and Waves. Encounters with Syrian Refugees (2018) ist eine im Auftrag von „Ärzte ohne Grenzen“ entstandene Comic-Reportage aus Gesprächen mit syrischen Geflüchteten.
Kate Evans’ Threads (2017) reflektiert die Erfahrungen der Autorin als freiwillige Helferin in den Lagern von Dunkerque und Calais.

Kuratiert wurde die Ausstellung von Marina Rauchenbacher unter Mitarbeit von Daniela Finzi.

Wir empfehlen, die Ausstellung nicht zu besuchen, wenn Sie auf explizite Darstellungen von Gewalt sensibel reagieren. Die gezeigten Inhalte sind nicht für Personen unter 16 Jahren geeignet.

(Quelle: Sigmund Freud Museum)

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