Hinaus auf die See
D
iese Geschichte habe ich von jemand, der keinen besonderen
Grund hatte, sie mir oder einem andern zu erzählen. Ich dachte
anfänglich, der Erzähler sei in einer angeheiterten Stimmung, und
ich konnte auch die folgenden Tage nicht recht an die Geschichte
glauben.
Als mein freundlicher Gastgeber merkte, daß seine Erzählung
Zweifel in mir erregte, legte er mir als schriftlichen Beweis dafür
ein muffiges Manuskript und trockene amtliche Berichte des
Britischen Kolonialamtes vor, um mir eine Reihe der
hervorstechendsten Tatsachen der merkwürdigen Erzählung zu
belegen.
Ich behaupte nicht, daß die Geschichte wahr ist, denn ich war
nicht Zeuge der darin geschilderten Ereignisse, aber ich glaube,
bestimmt, daß sie wahr sein kann, und deshalb habe ich den darin
beteiligten Personen andere Namen gegeben.
Die gelben Blätter des Tagebuchs eines längst verstorbenen
Mannes und die Berichte des Kolonialamtes stimmen genau
überein mit der Erzählung meines Gastgebers, und so unterbreite
ich dem Leser die Geschichte, wie ich sie mit Hilfe der
angegebenen Dokumente mit großer Mühe ausgearbeitet habe.
Sollte man sie nicht glaubwürdig finden, so wird man doch
jedenfalls mit mir darin übereinstimmen, daß es ein ganz
einzigartiger, bemerkenswerter und interessanter Fall ist.
Aus den Berichten des Kolonialamtes und aus dem Tagebuch
des Verstorbenen erfahren wir, daß ein junger vornehmer
Engländer, den wir John Clayton, Lord Greystoke, nennen wollen,
beauftragt wurde, eine besonders vorsichtige Untersuchung über
die Verhältnisse anzustellen, unter denen in einer britischen
Kolonie der Westküste Afrikas Eingeborene von einer andern
europäischen Macht als Soldaten für ihre Eingeborenenarmee
angeworben wurden, die lediglich zur zwangsweisen Beitreibung
von Gummi und Elfenbein bei den wilden Stämmen am Kongo
und Aruwimi benützt wurden.
Die Eingeborenen der britischen Kolonie beklagten sich
darüber, daß manche ihrer jüngeren Leute durch die schönsten
Versprechungen weggelockt wurden, daß aber nur wenige zu ihren
Familien zurückkehrten.
Die Engländer in Afrika gingen noch weiter, indem sie
behaupteten, diese armen Schwarzen würden gewissermaßen in
Sklaverei gehalten, denn bei Ablauf ihrer Verpflichtungszeit würde
ihre Dummheit von den weißen Offizieren ausgenützt und es
würde ihnen gesagt, sie müßten noch einige Jahre dienen. Aus
diesem Grunde sandte das Kolonialamt John Clayton auf einen
neuen Posten nach Britisch-West-Afrika. Es gab ihm den
vertraulichen Auftrag, eine gründliche Untersuchung über die
unloyale Behandlung schwarzer britischer Untertanen seitens der
Offiziere einer befreundeten europäischen Macht anzustellen. Die
Veranlassung zu seiner Mission ist aber für diese Erzählung von
geringer Bedeutung, denn Clayton stellte keine Untersuchung an
und in Wirklichkeit erreichte er nicht einmal seinen
Bestimmungsort.
Clayton war das Urbild eines tapferen Engländers, wie wir uns
es nach den Heldenleistungen in vielen siegreichen Schlachten
vorstellen, ein tüchtiger Mann in geistiger, moralischer und
körperlicher Hinsicht.
Er war von etwas mehr als mittlerer Größe. Seine Augen waren
grau, seine Züge regelmäßig und energisch. Seine Haltung war die
eines starken, gesunden Mannes, den der Militärdienst noch
gestählt hatte.
Aus politischem Ehrgeiz hatte er einen Übertritt vom
Heeresdienst zum Kolonialamt angestrebt, und so finden wir ihn
in noch jugendlichem Alter mit einem wichtigen Auftrag im
Dienste der Königin betraut.
Diese Berufung erfüllte ihn zwar mit Stolz, aber er war doch
auch darüber erschrocken. Die Beförderung erschien ihm als ein
wohlverdienter Lohn für seine ausdauernden, umsichtigen
Dienste und als eine Etappe zu einem bedeutenderen und
verantwortungsvolleren Posten, aber andererseits hatte er erst vor
drei Monaten Alice Rutherford geheiratet, und er war entsetzt bei
dem Gedanken, seine junge Frau den Gefahren und der
Einsamkeit des tropischen Afrika auszusetzen. Ihr zuliebe hätte er
den Auftrag ablehnen mögen, aber sie wollte das nicht. Sie drang
sogar in ihn, daß er ihn annehmen möchte, und erklärte sich
bereit, mit ihm zu gehen.
Da waren zwar die Mütter und die Brüder und die Schwestern,
die Tanten und Vettern, die allerlei Ansichten darüber kundgaben,
aber die Geschichte berichtet uns diese verschiedenen Meinungen
nicht.
Wir wissen nur, daß an einem freundlichen Maimorgen des
Jahres 1888 Lord Greystoke und Frau Alice von Dover nach Afrika
absegelten.
Einen Monat später kamen sie in Freetown an, wo sie ein
kleines Segelschiff, die »Fuwalda«, mieteten, um nach ihrem
Bestimmungsort zu gelangen.
Von jener Zeit an war aber Lord John Greystoke mit seiner Frau
Alice völlig verschollen. Kein Mensch hat sie mehr gesehen, noch
etwas von ihnen gehört.
Zwei Monate, nachdem sie den Hafen von Freetown verlassen
hatten, durchsuchten sechs englische Kriegsschiffe den
südatlantischen Ozean, um eine Spur von ihnen oder ihrem
kleinen Schiff zu finden, und bald darauf entdeckten sie die
Trümmer des Seglers an der Felsenküste von St. Helena. So war
die Welt überzeugt, daß die »Fuwalda« mit Mann und Maus
untergegangen war, und die Nachforschung nach den Vermißten
wurde eingestellt, nachdem sie noch kaum begonnen hatte. In den
sehnsüchtigen Herzen der Angehörigen lebte zwar noch manches
Jahr die Hoffnung fort, bis sie allmählich erlosch.
Die »Fuwalda«, ein Fahrzeug von etwa hundert Tonnen, war ein
Schiff von der Gattung, die man im Küstenhandel des fernen
südatlantischen Ozeans oft sieht und deren Mannschaft aus dem
Abschaum der See, ungehängten Mördern und Räubern aller
Rassen und Nationen, besteht.
Die Offiziere der »Fuwalda« waren gebräunte Eisenfresser, die
die Mannschaft haßten, so wie sie von dieser gehaßt wurden. Der
Kapitän war zwar ein tüchtiger Seemann, aber brutal gegen seine
Leute. In seinem Verkehr mit ihnen kannte er nur zwei
Argumente, wenn er sie auch erst in letzter Linie benützte, den
Knüppel und den Revolver, und es ist auch nicht wahrscheinlich,
daß das bunte Gemisch, das er angeworben hatte, irgend etwas
anderes verstanden hätte.
So geschah es denn, daß schon am zweiten Tage nach der
Abfahrt von Freetown John Clayton und seine junge Frau auf dem
Deck der »Fuwalda« Zeugen von Szenen wurden, wie sie nie
geglaubt hätten, daß sie anders als auf den bunten Titelbildern
von Seegeschichten vorkämen.
Es war am Morgen des zweiten Tages, wo das erste Glied einer
Kette entstand, die das Leben eines damals noch Ungeborenen so
umstricken sollte, wie es vielleicht noch nie dem Leben eines
Menschen geschehen ist.
Zwei Matrosen waren beschäftigt, das Deck der »Fuwalda« zu
waschen. Der erste Steuermann war auf seinem Posten, und der
Kapitän hatte sich eben mit John Clayton und Frau Alice
unterhalten.
Die Matrosen waren hinter ihnen an der Arbeit. Sie kamen
immer näher, bis der eine von ihnen direkt hinter dem Kapitän
war. In einem andern Augenblick wäre er ohne weiteres
vorübergegangen, und dann wäre diese ganze außerordentliche
Geschichte nicht passiert.
Aber gerade als der Offizier sich umdrehte, um Lord und Lady
Greystoke zu verlassen, stolperte er über den Matrosen und fiel in
seiner ganzen Länge auf das Deck, wobei er den Eimer umstürzte,
so daß er von dem schmutzigen Inhalt Übergossen wurde.
Im ersten Augenblick erschien die Szene zum Lachen, aber auch
nur für einen Augenblick. Mit einer Salve schrecklicher Flüche,
das Gesicht rot vor Wut, stand der Kapitän wieder auf, und mit
einem fürchterlichen Hieb schlug er den Matrosen nieder.
Es war ein schmächtiger, schon älterer Mann, so daß die
Brutalität nur noch mehr hervortrat. Der andere Seemann aber
war bedeutend jünger und stärker, ein richtiger Bär, mit stolzem
schwarzem Schnurrbart und stiernackig.
Als er sah, daß sein Kamerad dalag, bückte er sich, sprang mit
einem leisen Knurren auf den Kapitän los, und schlug ihn mit
einem einzigen mächtigen Schlag auf die Knie nieder.
Das Gesicht des Offiziers, das bis dahin rot gewesen war, wurde
jetzt weiß, denn das war offene Meuterei und Meuterei hatte er
schon früher in seinem brutalen Kerker unterdrückt. Ohne zu
warten, bis er wieder aufstehen konnte, zog er seinen Revolver aus
der Tasche und richtete ihn auf den muskulösen Riesen, der vor
ihm aufragte, aber in demselben Augenblick, da Lord Greystoke
die Waffe aufleuchten sah, schlug dieser sie zu Boden, so daß die
Kugel, die dem Herzen des Matrosen zugedacht war, ihn nur ins
Bein traf.
Es entstand ein Wortwechsel zwischen Clayton und dem
Kapitän. Der Lord erklärte ihm nämlich, er sei entrüstet über die
Grausamkeit gegen die Mannschaft und er wolle nicht dulden, daß
sich je wieder etwas Derartiges ereigne, solange er und seine Frau
als Passagiere aus dem Schiff seien.
Der Kapitän war auf dem Punkte, ihm heftig zu erwidern, aber
er fühlte, es sei besser, das nicht zu tun, und so wandte er sich mit
finsteren Blicken um und ging davon.
Er hielt es doch für klüger, einen englischen Beamten nicht zu
reizen, denn die mächtige Königin hatte ein Strafwerkzeug zur
Verfügung, das er kannte und fürchtete: Englands weitreichende
Flotte.
Die beiden Matrosen standen auf, indem der alte Mann dem
verwundeten Kameraden behilflich war. Der starke Kerl, der unter
der Mannschaft als der schwarze Michel bekannt war, prüfte sein
Bein bedächtig und als er fand, daß es sein Gewicht noch tragen
konnte, wandte er sich Clayton zu, indem er ihm mit kurzen
Worten dankte.
War auch der Ton des Mannes mürrisch, so waren seine Worte
doch offenbar gutgemeint. Kaum hatte er seine Ansprache
vollendet, so hatte er sich schon umgedreht und war im
Matrosenlogis verschwunden, in der offenbaren Absicht, jede
weitere Unterredung zu vermeiden.
Der Lord und seine Frau sahen ihn einige Tage lang nicht mehr,
und auch der Kapitän würdigte sie nur eines mürrischen
Brummens, wenn er gezwungen war, mit ihnen zu sprechen. Sie
speisten gemeinsam in seiner Kajüte, wie sie es vor dem
unglücklichen Vorfall taten, aber der Kapitän sorgte dafür, daß
seine Pflichten es ihm niemals erlaubten, zu gleicher Zeit mit
ihnen zu essen.
Die andern Offiziere waren derbe ungebildete Kerle und nur zu
froh, gesellschaftlichen Verkehr mit dem seinen englischen
Edelmann und seiner Gattin zu meiden, so daß die Claytons sehr
viel sich selbst überlassen waren.
An und für sich entsprach dies ihren Wünschen vollkommen,
aber dadurch waren sie auch von dem Leben und Treiben auf dem
kleinen Schiff abgesondert und nicht imstande, in Fühlung mit
den täglichen Vorkommnissen zu bleiben, die schon so bald in
einer blutigen Tragödie endigen sollten.
In der ganzen Atmosphäre des Schiffes lag ein unbestimmtes
Etwas, das Unheil verkündete.
Äußerlich ging auf dem kleinen Fahrzeug alles, soweit die
Claytons es sahen, seinen gewohnten Gang, aber daß sie einer
unbekannten Gefahr entgegengingen, fühlten beide, obschon sie
sich gegenseitig nicht darüber aussprachen.
Am zweiten Tag, nachdem der schwarze Michel verwundet
worden war, kam Clayton gerade rechtzeitig auf das Deck, um zu
sehen, wie der schlaffe Körper eines Matrosen von vier
Kameraden hinuntergebracht wurde, während der erste
Steuermann, einen schweren Knüppel in der Hand haltend, der
kleinen Gruppe trotziger Matrosen nachsah.
Clayton stellte keine Frage – er hatte es auch nicht nötig –, aber
als am folgenden Tage der große Umriß eines englischen
Schlachtschiffes am fernen Horizont auftauchte, war er halb
entschlossen, zu verlangen, daß er und seine Gattin an dessen
Bord übergesetzt würden, denn seine Befürchtung, daß ihnen bei
ihrem Verbleiben auf der düsteren »Fuwalda« noch etwas Übles
zustoßen könnte, wuchs ständig.
Gegen Mittag kamen sie in Sichtweite des britischen Schiffes,
aber wenn Clayton auch nahezu entschlossen war, den Kapitän zu
bitten, sie übersetzen zu lassen, so wurde ihm jetzt das
augenscheinlich Lächerliche eines solchen Ersuchens plötzlich
klar. Welchen Grund sollte er dem befehlenden Offizier von Ihrer
Majestät Schiff angeben, um in der Richtung zurückzufahren, aus
der er soeben gekommen war?
Wahrhaftig, wenn er den Offizieren erzählt hätte, daß zwei
widerspenstige Matrosen rauh behandelt worden seien, so hätten
sie nur heimlich über ihn gelacht und ihn der Feigheit bezichtigt,
wenn er das kleine Schiff nur aus diesem Grunde verlassen hätte.
So verzichtete Lord Greystoke darauf, an Bord des britischen
Kriegsschiffs gebracht zu werden; aber am späten Nachmittag,
noch bevor die Mastspitzen des Kriegsschiffes am fernen Horizont
ganz verschwunden waren, fand er seine größten Befürchtungen
bestätigt, und er verwünschte nun seinen falschen Stolz, der ihn
einige Stunden vorher davon abgehalten hatte, sein junges Weib
in Sicherheit zu bringen, als sich ihm diese Rettung bot – eine
Rettung, die nun für immer vorbei war.
Es war am Nachmittag, als der kleine alte Mann, der vor einigen
Tagen so unmenschlich von dem Kapitän niedergeschlagen
worden war, sich an Clayton und seine Frau, die dem
entschwindenden Schlachtschiff nachsahen, heranschlich. Der
Alte polierte Messingstangen, und als er näher an Clayton
herankam, sagte er in flüsterndem Tone:
Er wird's bezahlen, Herr! Das glauben Sie mir aufs Wort. Er
wird's bezahlen!
Was meinen Sie, mein Bester? fragte Clayton.
Wie? Haben Sie nicht gesehen, was hier vorgeht? Dieser
Teufels-Kapitän! Gestern zwei zerschlagene Köpfe und heute drei.
Der vom schwarzen Michel ist wieder so gut wie neu, und er ist
nicht der Kerl, der sich das gefallen läßt, er nicht, mein Wort
darauf!
Sie meinen, lieber Mann, daß die Mannschaft meutern will?
Meutern? erwiderte der Alte, meutern? Totschlagen wird man,
Herr, mein Wort darauf!
Wann?
Es kommt, Herr, es kommt, aber ich darf nicht sagen, wann,
und ich habe jetzt schon verflucht viel gesagt, aber Sie waren
neulich so gut gegen mich, und da dachte ich, es wäre nicht mehr
als recht, Sie zu warnen. Aber halten Sie die Zunge fest, und wenn
Sie schießen hören, so gehen Sie hinunter und bleiben Sie dort!
Das ist alles, aber schweigen Sie, oder man wird Ihnen eine Pille
zwischen die Rippen jagen, – verlassen Sie sich darauf, Herr!
Und der alte Mann polierte weiter und entfernte sich allmählich
von der Stelle, wo die Claytons standen.
Das sind ja schöne Aussichten, Alice, sagte Clayton.
Du mußt den Kapitän sofort warnen, John! sagte sie. Die
Unruhen können dann vielleicht noch verhütet werden.
Eigentlich müßte ich es tun, aber vom selbstsüchtigen
Standpunkt aus möchte ich lieber »die Zunge festhalten«. Was die
Leute auch unternehmen mögen, uns werden sie schonen, aus
Dank dafür, daß ich für den schwarzen Michel Partei ergriffen
habe, aber wenn sie herausfänden, daß ich sie verraten hätte, so
würden wir keine Gnade vor ihnen finden, Alice!
Du hast aber nur eine Pflicht, John, und die liegt auf der Seite
der verletzten Autorität! Wenn du den Kapitän nicht warnst, so
machst du dich der Mithilfe schuldig, genau so, als ob du an der
Anzettelung der Verschwörung mit beteiligt gewesen wärest.
Du faßt die Sache falsch auf, mein Liebling, erwiderte Clayton.
An dich denke ich, – darin liegt meine erste Pflicht. Der Kapitän
hat sich selbst in diese Lage gebracht. Warum soll ich in dem
wahrscheinlich nutzlosen Versuch, ihn vor seinem eigenen
brutalen Wahnsinn zu retten, es riskieren, meine Frau
undenkbaren Greueln auszusetzen? Du hast keinen Begriff, meine
Liebe, von dem, was folgen würde, wenn dieses Pack von
Halsabschneidern die »Fuwalda« in ihre Gewalt bekäme.
Pflicht ist Pflicht, mein Lieber, und kein Scheingrund kann
etwas daran ändern. Das müßte ein armseliges Weib für einen
englischen Lord sein, wenn es ihn verhindern wollte, einfach seine
Pflicht zu tun. Ich verstehe die Gefahr, die daraus entstehen kann,
aber ich kann ihr mit dir vereint entgegentreten, und zwar tapferer
als ich es im Bewußtsein der Schuld könnte, daß du eine Tragödie
hättest vermeiden können, wenn du deine Pflicht nicht
vernachlässigt hättest.
So geschehe denn dein Wille, Alice, antwortete er. Vielleicht
machen wir uns auch unnötige Sorgen. Wenn mir auch die
Vorgänge an Bord dieses Schiffes nicht gefallen, so sind sie doch
vielleicht nicht so tragisch, denn es ist möglich, daß der alte
Seemann mehr die Wünsche seines bösen alten Herzens geäußert
als von wirklichen Tatsachen gesprochen hat. Meuterei auf hoher
See mag vor hundert Jahren häufig gewesen fein, aber im Jahre
1888 ist es das unwahrscheinlichste Vorkommnis, das man sich
denken kann. – Doch da geht der Kapitän in seine Kajüte! Wenn
ich ihn warnen soll, so möchte ich diese unangenehme Sache
gleich erledigen, denn ich habe überhaupt wenig Lust, mit dem
brutalen Menschen zu sprechen.
Indem er so sprach, schlenderte er mit sorgloser Miene der
Kajütentreppe zu, die der Kapitän eben passiert hatte, und klopfte
einen Augenblick später an dessen Tür.
Herein! brummte der tiefe Baß des mürrischen Offiziers. Und
als Clayton eingetreten war und die Tür hinter sich geschlossen
hatte, fragte er:
Nun?
Ich komme, um Ihnen den Hauptpunkt einer Unterredung
mitzuteilen, die ich heute gehört habe, denn ich habe die
Empfindung, daß, wenn auch nichts Wahres daran sein sollte, es
auf alle Fälle gut sein wird, wenn Sie bewaffnet sein werden. Die
Mannschaft beabsichtigt in Kürze Meuterei und Totschlag!
Das ist gelogen! brüllte der Kapitän. Und wenn Sie sich noch
einmal in die Disziplin dieses Schiffes einmischen oder sich um
Dinge kümmern, die Sie nichts angehen, so sollen Sie die Folgen
tragen und zum Teufel gehen! Es ist mir gleich, ob Sie englischer
Lord find oder nicht. Ich bin Kapitän dieses Schiffes, und von jetzt
ab stecken Sie Ihre Nase nicht mehr in meine Angelegenheiten!
Indem er so sprach, redete er sich in eine solche Wut hinein,
daß er puterrot im Gesicht wurde und die letzten Worte nur so
hinausschrie, indem er mit der einen gewaltigen Faust auf den
Tisch schlug und mit der andern Clayton bedrohte.
Greystoke verzog keine Miene, sondern sah nur mit Staunen auf
den erregten Mann.
Kapitän Billings, sagte er mit langsamer Betonung, wenn Sie
meine Offenheit verzeihen wollen, so möchte ich Ihnen sagen, daß
Sie ein Esel sind. Verstehen Sie?
Darauf drehte er sich um und verließ die Kajüte mit derselben
Gemütsruhe, die ihm stets eigen war und die den Zorn eines
Mannes wie Billings mehr steigerte, als eine Flut von
Schimpfworten.
Wenn Clayton versucht hätte, ihn zu versöhnen, so hätte der
Kapitän seine jähzornigen Worte vielleicht bedauert. So aber
verblieb er in derselben Wut, wie Clayton ihn verlassen hatte, und
somit war die letzte Aussicht auf ein Zusammenarbeiten für ihr
gemeinsames Wohl und die Erhaltung ihres Lebens dahin.
Nun, Alice, sagte Clayton, als er zu seiner Frau zurückkehrte,
wenn ich meinen Atem gespart hätte, so hätte ich mir auch ein
wenig Ärger erspart. Der Kerl zeigte sich sehr undankbar. Er fiel
mich an wie ein toller Hund. Er mag mit seinem alten Schiff zum
Henker gehen! Was liegt mir daran. Und bis wir glücklich hier
loskommen, werde ich nur noch auf unser eigenes Wohl bedacht
sein. Und ich denke, daß der erste Schritt auf diesem Wege der
sein wird, nach unserer Kajüte zu gehen und nach meinem
Revolver zu sehen. Ich bedauere jetzt, daß ich die größeren
Gewehre und die Munition ganz unten in die Koffer gepackt habe.
Sie fanden ihre Kabine in einem üblen Zustand. Kleider aus
ihren offenen Koffern lagen in dem kleinen Raum umhergestreut
und selbst die Betten waren auseinandergerissen.
Da hat offenbar einer sich mehr für unser Eigentum interessiert
als wir selbst, sagte Clayton. Ich möchte aber wissen, was der
freche Kerl gesucht hat. Laß uns doch einmal nachsehen, Alice, ob
etwas fehlt.
Nach gründlichem Suchen stellte sich heraus, daß nichts weiter
gestohlen worden war, als die zwei Revolver und etwas Munition,
die dabei lag.
Das sind gerade die zwei Dinge, auf die ich am meisten Wert
gelegt hätte, sagte Clayton. Und die Tatsache, daß sie nur diese
mit fortgenommen haben, ist das Schlimmste von allem, was wir
bis jetzt auf diesem erbärmlichen Kasten erfahren haben.
Was sollen wir nun tun, John? fragte seine Frau. Ich werde dich
nicht mehr drängen, nochmals zum Kapitän zu gehen, denn ich
möchte dich nicht noch einmal einer Beschimpfung aussetzen.
Vielleicht liegt unsere beste Aussicht auf Rettung in einem
neutralen Verhalten. Wenn die Offiziere imstande sind, eine
Meuterei zu verhindern, so haben wir nichts zu befürchten,
während, wenn die Meuterer siegen, unsere einzige schwache
Hoffnung darin liegt, nicht versucht zu haben, ihre Pläne zu
durchkreuzen oder zu bekämpfen.
Du hast Recht, Alice. Halten wir den goldenen Mittelweg ein.
Als sie sich anschickten, ihre Kabine in Ordnung zu bringen,
bemerkten Clayton und seine Frau, daß ein Stück Papier unter der
Türe hereingeschoben wurde. Als Clayton sich darnach bückte,
war er verwundert, daß es sich weiter bewegte, und er erkannte,
daß es jemand von außen hereinschob.
Schnell und lautlos näherte er sich der Türe, aber als er diese
aufreißen wollte, faßte seine Frau ihn beim Handgelenk.
Nein, John, flüsterte sie, sie wollen nicht gesehen werden, und
deshalb wollen wir sie auch nicht überraschen. Vergiß nicht, daß
wir den goldenen Mittelweg gehen wollen.
Clayton zog seine Hand zurück. So standen sie da und
beobachteten das kleine Stück weiße Papier, bis es vollständig
diesseits der Türe war.
Dann hob Clayton es auf. Es war ein schmutziges Blatt, das
unordentlich zusammengefallen war. Beim Öffnen lasen sie darauf
einige Zeilen in einer Schrift, die offenbar von einer des
Schreibens nicht gewohnten Hand herrührte.
Dem Inhalt nach war es eine Warnung an die Claytons, sich bei
Todesstrafe einer Meldung über das Abhandenkommen der
Revolver oder einer Mitteilung über das, was der alte Matrose
gesagt hatte, zu enthalten.
Ich glaube, es geht gut, sagte Clayton mit traurigem Lächeln.
Alles, was wir tun können, ist uns ruhig zu verhalten und
abzuwarten, was auch kommen mag.